
Ein Interview mit dem Wissenschaftler am Institut für Geschichtsforschung bei der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften zu seinem Buch “Die Unaufrichtigen”, das die Beziehungen zwischen Rumänien, Bulgarien, Deutschland und Österreich-Ungarn am Vorabend des Ersten Weltkriegs und die gegenwärtigen rumänisch-bulgarischen Beziehungen widerspiegelt
Vladimir Mitev

Dozent Dr. Vladimir Zlatarsky ist Wissenschaftler am Institut für Geschichtsforschung bei der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften. Er untersucht die Geschichte Bulgariens ab Ende des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts unter dem Blickwinkel der internationalen Beziehungen. Er ist Experte auf dem Gebiet der Geschichte der bulgarisch-deutschen und bulgarisch-österreichischen Verbindungen sowie der Balkanistik. Er ist Autor der Monographien „Das Reich und das Königreich. Die deutsche Präsenz in Bulgarien 1933-1940“ (2014) und „Die Unaufrichtigen. Bulgarien, Rumänien und die Mittelmächte 1913-1914“ (2018).
Herr Zlatarsky, Ihr Buch „Die Unaufrichtigen“ verfolgt den erfolglosen Versuch Deutschlands, Österreich-Ungarns, Bulgariens und Rumäniens, am Vorabend des Ersten Weltkriegs ein Bündnis untereinander aufzubauen. Wie bereits der Titel vermuten lässt, ein wichtiger Grund für den Zeitverlust in den Beziehungen und das Scheitern der Verbindung zwischen den Spielern ist der Geist von gegenseitigem Misstrauen, Skepsis, Angst, Argwohn, unterschiedlichen Vorurteilen unter den Völkern und vor allem unter deren Machthabern. Was für eine Vision hatten die deutschsprachigen Länder in Bezug auf die Beziehungen zwischen Rumänien und Bulgarien in den Jahren 1913-1914? Inwieweit existierte eine deutsche Vormundschaft gegenüber beiden Ländern?
Bulgarien und Rumänien haben eine lange Geschichte bilateraler Beziehungen. Die erste Periode umfasst die Zeit ab der Befreiung Bulgariens bis 1940, die ich als Zeit des bilateralen Antagonismus bezeichne. Der moderne rumänische Staat wird einige Jahrzehnte vor dem bulgarischen gegründet und spielt eine wichtige Rolle in den Befreiungskämpfen der Bulgaren – dort finden die Aktivisten der nationalen Befreiungsbewegung Zuflucht. Als sich auch Bulgarien 1878 als selbstständiger Staat absondert, beginnt zwischen den beiden Ländern ein Wettbewerb. Dieser ist in unserem Land, welches in andere Richtungen blickt, um sein Vereinigungswerk fortzuführen, weniger ausgeprägt.
Doch gerade die große bulgarische Gemarkung macht den Rumänen Angst, denn ein Großbulgarien stellt einen sicheren regionalen Hegemon dar: eine Position, die der rumänische Staat für sich haben will, zumal er auch seine Grenze am Schwarzen Meer zu verbessern sucht, d.h. eine Ausdehnung auf bulgarische Ländereien. Die rumänische Politik beginnt sich auf Bulgarien zu fixieren, dessen rasanter Aufstieg nördlich des Donauflusses Angst auslöst. Neben diesem regionalen Grund gibt es noch einen großen, geopolitischen: für Rumänien, zwischen zwei großen Imperien – dem russischen und dem österreichischen – in die Enge getrieben, stellen die bulgarisch-russischen Beziehungen ferner auch ein Bekenntnis zur Haltung gegenüber Sofia dar: wenn diese Beziehungen schlecht sind, sind die bulgarisch-rumänischen Beziehungen gut und umgekehrt. Dies erklärt sich aus der Furcht, die Bukarest seit Jahrzehnten gegenüber Russland empfindet. Es ist eine begründete Furcht, die historische Gründe hat, und vor allem der aktuelle Verlust von Bessarabien, das 1878 vom russischen Kaiserreich annektiert wird. Deshalb wird Rumänien, wenn auch heimlich (nur ein kleiner Kreis um den König Karol der Erste weiß davon) , bereits 1883 ein Teil des Sicherheitssystems der zukünftigen Mittelmächte Österreich-Ungarn und Deutschland.
So komme ich zum zweiten Teil Ihrer Frage. In meinem Buch möchte ich einen Mythos widerlegen: dass Deutschland lange vor dem Ersten Weltkrieg nach Wegen sucht, Bulgarien in dessen Einflussbereich zu integrieren. Nichts dergleichen! Die deutschen Archive zeigen ganz klar, dass man in Berlin bis zum Sommer 1914 überhaupt keinerlei Bindung zu Bulgarien wünscht und nur der sich abzeichnende Krieg diese fest verankerte Gegebenheit in der deutschen Politik verändert. Erst dann beginnt sich Deutschland für die Zeichen zu öffnen, die die bulgarische Regierung nach ihrem Untergang im Zweiten Balkankrieg aussendet. Deshalb kann von einer “deutschen Vormundschaft”, wie Sie es genannt haben, zumindest im bulgarischen Fall keine Rede sein. Was Rumänien betrifft, wenngleich formal in einem geheimen Bündnis mit Deutschland und Österreich-Ungarn, formiert sich innerhalb des Jahrzehnts vor dem Ersten Weltkrieg eine Umkehr in den öffentlichen und politischen Einstellungen: Die Idee der Rückführung von Bessarabien gibt dem Verlangen nach, ein reiches und hauptsächlich von Rumänen besiedeltes Transilvanien, das zu Österreich-Ungarn gehört, zu besitzen.
Dies bestimmt auch die allmähliche Wendung in der rumänischen Ausrichtung – vom Lager der Mittelmächte zu dem der Entente. Für die beiden europäischen Blöcke sind die unaufrichtigen, von gegenseitig ausschließenden Interessen gekennzeichneten bulgarisch-rumänischen Beziehungen unwichtig. Von Bedeutung ist nur die Bestimmung beider Länder nach Beginn des Krieges.
Die von Ihnen gesammelten Tatsachen zeigen eindeutig, dass Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg eine naive und kurzsichtige Politik gegenüber dem Balkan verfolgte. Berlin war sich bis zuletzt nicht dessen bewußt, dass sich Rumänien dem russischen Orbit nähert und sich vom Militärbündnis mit den Mittelmächten lossagt. Darüber hinaus war das Bündnis zwischen Griechenland und dem Osmanischen Reich, das Berlin am Vorabend des Krieges zu erreichen versuchte, für jeden, der die Region kannte, utopisch. Stattdessen hat sich Österreich-Ungarn gut an den Geschehnissen in Südosteuropa orientiert. Warum ließen sich die Deutschen von den rumänischen Machthabern so leicht manipulieren, und warum behandelten sie die Bulgaren 1913-1914 so skeptisch? Inwieweit verfügt der deutschsprachige Raum über eine korrekte Einschätzung der damaligen Geschehnisse in der Region Südosteuropa?
Im deutschsprachigen Raum ist es damals Wien, welches über das Wissen und die Erfahrung darüber verfügt, wie die Dinge auf dem Balkan funktionieren. Bismarck hat einmal gesagt, dass die Probleme des Südostens von den Österreichern gelöst werden müssen, während die Deutschen sie unterstützen sollten. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges ist dies bei weitem nicht mehr der Fall: zwischen Wien und Berlin gibt es überhaupt kein Einvernehmen in Bezug auf die Balkanprobleme, insbesondere nach dem Sommer 1913. Und weil der Starke in der Koalition Deutschland ist, führt es auch die gemeinsame Politik in einer Art und Weise, die für die Doppelmonarchie eine vollkommene Enttäuschung ist. Berlin setzt alles auf eine illusorische Verständigung mit Großbritannien und in Verfolgung dieser Utopie versäumt es, viele Dinge zu bemerken. In Wien hat man einen klaren Blick: Rumänien trennt sich unwiderruflich von den Mittelmächten und bewegt sich auf die Entente zu, während Bulgarien, das aufgrund der fehlenden russischen Unterstützung in den Balkankriegen enttäuscht worden war, bereit ist, es zu ersetzen. Monatelang versucht die Wiener Diplomatie vergeblich, Kaiser Wilhelm II. und das deutsche Außenministerium von der Notwendigkeit zu überzeugen, Bulgarien zu unterstützen, doch Berlin lehnte dies, blind auf die rumänische und die griechische Karte setzend, ab.
Die Entwicklung des Ersten Weltkriegs zeigt die Richtigkeit der österreichischen und die Irrtümer der deutschen Einschätzungen. Ursache für diese Verwirrung ist sowohl der Einfluss der persönlichen Ansichten und Präferenzen des Kaisers, als auch die institutionelle Schwäche des Außenministeriums in der Zeit, als dieses vom Staatssekretär Jagow geleitet wird. Diese Kreise schenken dem Glauben, was sie hören wollen, und diese Situation bringt der gut durchdachten rumänischen Diplomatie lange Zeit Erfolg. Gleichzeitig bleiben die Appelle erfahrener deutscher Diplomaten nach einem nüchternen Realismus ohne Wirkung.
Ihr Buch weist auf eine ironische Tatsache vom Vorabend des Ersten Weltkriegs hin. In den Jahren 1913 und 1914 vermutet die rumänische Führung die ganze Zeit, dass sich Sofia, das einem Kurs in Richtung Mittelmächte folgt, davonmacht und sich mit Russland verbindet. Schließlich ist es gerade Bukarest, welches an Moskau „anlegt“, während Bulgarien seinen angekündigten Bestrebungen in Bezug auf die Mittelmächte treu bleibt. Damals wie heute gibt es in Rumänien starke russophobe Stimmungen, aber schließlich gewährleistet die Bindung an die Entente Rumänien den Triumph der großen Einigung, deren hundertjähriges Bestehen kürzlich gefeiert wurde. Was verstehen die Rumänen nicht richtig in Bezug auf die Bulgaren und wo irren sich die Bulgaren in Bezug auf die Rumänen, wenn es um Politik geht – sowohl vor hundert Jahren als auch heute?
1914, und auch gegenwärtig, sind Bulgarien und Rumänien zwei Länder des europäischen Südostens, die einen wichtigen Standort, aber nicht die Größenordnung haben, um ihre Ziele alleine zu erreichen. Bulgariens Versuch, seine Probleme 1913 gegen die Warnungen der internationalen Gemeinschaft mit einem Schlag zu lösen, endet in einer Katastrophe. Rumänien ist von den benachbarten Imperien so in die Enge getrieben, dass es undenkbar ist, irgendetwas allein zu unternehmen. Folglich: Um ihre Ziele zu erreichen, brauchen sowohl die Rumänen als auch die Bulgaren internationale Unterstützung. Sie müssen diese Nische in den Beziehungen zwischen den Großmächten finden, die es ihnen ermöglicht, ihre Probleme zu lösen.
Wie ich bereits gesagt habe, am Vorabend des Ersten Weltkriegs gibt es in Rumänien eine Umkehr in den Einstellungen: die transilvanische Angelegenheit ersetzt die bessarabische. Deshalb schließt sich Rumänien auch jenem Lager an, welches es ihm verspricht, und tritt im August 1916 auf der Seite der Entente in den Krieg ein. Bulgarien wiederum will sich das in Mazedonien Verlorene zurückholen und wählt diesen, der ihm dieses verspricht – das sind die Mittelmächte. Diesen schließt sich das Land im September 1915 an. So handeln sowohl Sofia als auch Bukarest entsprechend ihrer nationalen Interessen, um diese schwierige Wahl zu treffen.
Wir können die Ereignisse nicht nur nach dem Endergebnis beurteilen. Aufgabe eines Historikers ist es zu versuchen, aus dem Blickwinkel der Menschen zu schauen, die in der jeweiligen Epoche Entscheidungen getroffen haben, und nicht, sich vom Geschehenen leiten zu lassen. Letzten Endes erweist sich Rumänien auf der Gewinnerseite, aber bis Herbst 1918 hat niemand auch nur daran gedacht: Zu dieser Zeit ist Rumänien besetzt und hat einen für sich katastrophalen Friedensvertrag unterzeichnet. Bulgarien verfällt ins andere Extrem: Es hat seine Ziele erreicht, vereint in ethnischen Grenzen. Einen Monat später ist alles genau umgekehrt, weil der Krieg zwischen den Großmächten entschieden ist.
Was hindert die Länder der Region Südosteuropas daran, untereinander eine großangelegte grenzübergreifende Zusammenarbeit umzusetzen? Seit Jahren halten die Leader Rumäniens, Bulgariens, Serbiens und Griechenlands regelmäßig Treffen ab, auf denen sie ihren Wunsch zum Ausdruck bringen, Infrastrukturverbindungen zu entwickeln, aber niemals kündigen sie konkrete Projekte mit abgesicherter Finanzierung und Fristen zu deren Fertigstellung an …
Auf dem Balkan haben wir große Traditionen darin, den anderen nicht zu mögen. Hier sind die Stereotypen sehr stark, nicht zuletzt auch darum, weil die Staaten selbst diese Linie unterstützen. Die Geschichte des Balkans ist ein Symbol. Sie ist für die Völker hier eine Quelle des nationalen Selbstvertrauens. Und weil in dieser Geschichte die Wechselbeziehungen vorwiegend auf Gewalt und Ungerechtigkeit beruhen, ist das Misstrauen im kollektiven Gedächtnis stark verankert. Es ist schwer, dies völlig zu überwinden.
Aber wir sollten auch etwas anderes nicht vergessen: Heute wächst eine Generation heran, für die Verbundenheit, Verantwortung und Freiheit, die von der Europäischen Union gewährleistet werden, Selbstverständlichkeit sind, auf die die neue Generation nicht verzichten will. Bulgaren und Rumänen reisen problemlos über die Donau. Sie lernen sich mit eigenen Augen und nicht aus dem Blickwinkel eines anderen kennen. Und dies ist eine natürliche Entwicklung. Heute sind die bulgarisch-rumänischen Beziehungen gut, nicht zuletzt auch weil die territorialen Probleme zwischen beiden Ländern letzten Endes gerecht gelöst wurden. Die Geschichte jedoch bleibt wichtig, weil sie die Rahmen gibt und auch die Lehren. Die Menschen müssen und wollen sie kennen, um eine Orientierung zu haben. Dies ist auch die Aufgabe meines Buches “Die Unaufrichtigen”.
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